Schämen wir uns manchmal wirklich fremd? Die Psychologie hinter dem Phänomen
„Hast du schon einmal das Gefühl gehabt, dir für jemanden anderen fremd zu schämen? Jemand tut etwas Peinliches, und plötzlich bist du derjenige, der das unangenehme Gefühl der Scham spürt – obwohl du selbst gar nicht betroffen bist? Du bist nicht der Einzige. Fremdscham ist ein weit verbreitetes Gefühl, das viele von uns schon erlebt haben. Aber was genau steckt hinter dieser merkwürdigen und oft unangenehmen Emotion?“
In diesem Kapitel tauchen wir tief in das psychologische Phänomen der Fremdscham ein. Wir werden untersuchen, warum wir uns so stark mit den Gefühlen anderer Menschen verbinden können und was es über unsere eigenen sozialen Bedürfnisse und Werte aussagt.
Was ist Fremdscham?
Fremdscham ist der Zustand, in dem wir uns für das Verhalten einer anderen Person schämen, obwohl wir nicht direkt involviert sind. Dieses Gefühl tritt oft auf, wenn jemand in unserer Umgebung sich peinlich verhält oder in einer unangenehmen Situation ist, die wir mit ihm oder ihr teilen – aber auch, wenn wir einfach nur Zeuge eines „sozial unangemessenen“ Verhaltens werden.
Der Begriff Fremdscham beschreibt das starke Empfinden, als wäre es unsere eigene Scham, obwohl es die Scham eines anderen ist. Psychologisch betrachtet, ist dieses Phänomen eine Form der empathischen Reaktion, die uns hilft, das Verhalten anderer zu verstehen und uns in ihre Lage zu versetzen – was auf den ersten Blick paradox wirken kann.
Warum empfinden wir Fremdscham?
Fremdscham ist nicht einfach ein unangenehmes Gefühl, sondern auch ein Hinweis auf unsere tieferliegenden sozialen Instinkte. Als soziale Wesen sind wir darauf programmiert, uns an den Normen und Werten unserer Gemeinschaft zu orientieren. Wenn jemand in unserer Nähe gegen diese Normen verstößt, erleben wir Kognitive Dissonanz – ein Zustand innerer Unruhe, der uns dazu bringt, auf das Verhalten der anderen Person zu reagieren.
Hier einige Gründe, warum wir Fremdscham empfinden:
- Empathie und Spiegelneuronen: Wir haben ein starkes Empathiesystem, das es uns ermöglicht, uns in die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Die sogenannten Spiegelneuronen im Gehirn helfen uns, Emotionen wie Freude oder Scham von anderen zu „spüren“, als wären sie unsere eigenen. Wenn du also siehst, wie jemand in Verlegenheit gerät oder sich unangemessen verhält, aktiviert dein Gehirn diese Neuronen und lässt dich die Scham fast wie in einem Spiegel erleben.
- Soziale Bindung und Zugehörigkeit: Scham hat oft mit der Gesellschaftszugehörigkeit zu tun. In sozialen Gruppen gibt es unausgesprochene Regeln und Normen, wie sich „jeder“ zu verhalten hat. Wenn jemand gegen diese Normen verstößt, erleben wir ein Gefühl der sozialen Bedrohung – und deshalb fühlen wir uns plötzlich selbst peinlich berührt. Es geht nicht nur darum, dass jemand sich ungeschickt verhält – es geht auch darum, wie dieses Verhalten uns und unsere Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe beeinflusst.
- Verinnerlichte soziale Normen: Viele von uns wachsen mit bestimmten sozialen Erwartungen auf, was als „akzeptabel“ und „unangemessen“ gilt. Diese Normen können sich von Kultur zu Kultur unterscheiden, aber in den meisten Fällen haben wir eine unbewusste Vorstellung davon, was im öffentlichen Raum als peinlich gilt. Wenn jemand dagegen verstößt, aktiviert es unsere inneren Überzeugungen, was uns das Gefühl gibt, fremd zu schämen.
Fremdscham im täglichen Leben: Wie wir sie erleben
Fremdscham kann in vielen alltäglichen Situationen auftreten, zum Beispiel:
- In der Öffentlichkeit: Ein Beispiel ist, wenn jemand in einem Restaurant laut spricht oder in einem wichtigen Meeting eine unangemessene Bemerkung macht. Auch wenn du nicht die Person bist, die die unangemessene Handlung begangen hat, spürst du die soziale Unbequemlichkeit und hast das Gefühl, als würde das Verhalten auch auf dich zurückfallen.
- In den sozialen Medien: Heute erleben wir Fremdscham häufig in den sozialen Medien. Jemand postet ein unangemessenes Bild oder einen unbedachten Kommentar, und du fühlst dich irgendwie selbst ertappt, als ob du genauso in diese Situation geraten könntest. Obwohl du der Person nicht nahe stehst, kannst du dich mit ihrem Fehltritt identifizieren und spürst die Scham, als wäre es dein eigenes Verhalten.
- Bei Freunden oder Familienmitgliedern: Auch Menschen, die uns nahe stehen, können Situationen hervorrufen, in denen wir uns für sie schämen. Stell dir vor, jemand in deiner Familie sagt in einem sozialen Kontext etwas völlig Unpassendes – du bist mit dieser Person emotional verbunden und spürst die Scham mit, obwohl du derjenige bist, der keine unangemessene Bemerkung gemacht hat.
Die Psychologie hinter der Fremdscham: Warum ist es so unangenehm?
Scham ist eine der stärksten negativen Emotionen, die wir als Menschen empfinden können. Sie signalisiert uns, dass wir von anderen negativ bewertet werden könnten oder dass unser Verhalten nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Scham schützt uns davor, in sozialer Isolation zu enden, und hilft uns, uns an die Regeln und Werte der Gemeinschaft anzupassen.
- Die Rolle von Scham: Scham kann uns auch dabei helfen, soziale Bindungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Wenn wir uns für das Verhalten anderer schämen, stärkt das unser Gemeinschaftsgefühl und die Zugehörigkeit. Es zeigt uns, dass wir die sozialen Normen verstehen und respektieren.
- Das Unbewusste und die Übertragung: Ein weiterer Grund für Fremdscham könnte die Übertragung von Gefühlen sein. Wenn wir jemanden mögen oder uns mit ihm verbunden fühlen, neigen wir dazu, seine Emotionen zu übernehmen. Scham ist ein starkes Gefühl, das wir auf andere projizieren können. Durch diese Übertragung entsteht der Eindruck, dass wir uns für die Person schämen – obwohl wir objektiv betrachtet keinen direkten Zusammenhang mit ihrem Verhalten haben.
Mythos oder Wahrheit?
Wahrheit: Fremdscham ist kein bloßes Gefühl, das wir uns einbilden. Es ist eine sehr reale und tief verwurzelte Emotion, die mit Empathie, sozialer Zugehörigkeit und der Verinnerlichung sozialer Normen zu tun hat. Wir schämen uns fremd, weil wir uns durch das Verhalten anderer bedroht fühlen und gleichzeitig unsere Verbindung zu dieser Person spüren. Es ist ein psychologischer Mechanismus, der uns hilft, uns mit anderen zu identifizieren, aber auch uns selbst vor sozialer Abweichung zu schützen.